Korrekturendilemma

Im Grundschulstudium müssen an meiner Uni für jede Vorlesung in Mathe jeweils Portfolios mit Übungen in den begleitenden Tutorien abgegeben werden. Da ich in diesem Semester eine Stelle als Tutorin habe, betrifft die Portfoliokorrektur nun auch mich. Vor der endgültigen Abgabe der Portfolios, die über das Bestehen der Studienleistung und somit die Zulassung zur Klausur entscheidet, haben die Studierenden schon einige Wochen vorher einmalig die Möglichkeit, einen Teil ihrer Portfolios freiwillig abzugeben. Sie können so Feedback zu ihren Ausarbeitungen erhalten und erfahren, ob es für das Bestehen reichen würde oder sie es nochmals überarbeiten sollten.

Ich habe als Tutorin die Portfolios aus meinem Tutorium zu kontrollieren und Rückmeldungen zu geben. Da ich meine Studierenden nur einmal die Woche sehe und auch häufig einige fehlen, habe ich nicht zu jedem Namen ein Gesicht. Das macht das Korrigieren der Portfolios irgendwie angenehmer, vor allem, wenn das Portfolio nicht ganz den Anforderungen entspricht. Leider habe ich aber vorhin ein Portfolio von jemandem auf dem Tisch gehabt, der mir sehr sympathisch ist und die sich eigentlich immer viel Mühe gibt. Der erste Teil des Portfolios war auch richtig gut, aber leider war der zweite Teil sehr mangelhaft, sodass ein Bestehen des Portfolios nicht sicher ist. Es war mir sehr unangenehm, dies drauf zu schreiben.

Ich bin also irgendwie in ein Dilemma gekommen, weil ich nicht wollte, dass die Abgabe dieser Studentin so schlecht ist. Da ist mir dann erst bewusst geworden, dass dies auch ein großer Bereich in meinem Lehrerinnendasein sein wird. Ich werde Kinder auch mal schlecht bewerten müssen, obwohl ich sie gerne habe. Ich werde Kinder schlecht bewerten müssen, obwohl ich weiß, dass sie sich so anstrengen und viel Mühe geben. Einfach, weil man an diese Normen gebunden ist. Und wieder schließt sich der Kreis dahin, dass ich Noten in der Schule kritisch sehe. Dazu habe ich vor einiger Zeit schon einmal geschrieben, allerdings aus Schülersicht. Heute kann ich auch ein wenig aus der Sicht der Person, die „Noten“ oder Bewertungen abgeben muss, sprechen. Verbalbeurteilungen, wie sie im Portfolio erfolgen, sind zwar deutlich aufwendiger, finde ich aber angenehmer, als eine einfache Zahl für die Leistung zu finden.

Eine andere Sache wäre es natürlich auch, wenn die Bezugsnorm einfach so gewählt wird, dass die Leistung eines Kindes an seinen vorherigen Leistungen gemessen wird: hat es sich verbessert oder verschlechtert?

Vielleicht fällt es einem aber auch immer leichter, je öfter man Dinge bewerten muss. Schließlich ist es jetzt mein allererstes Mal. Im Januar ist die Abgabe der Portfolios, vielleicht ist es dann schon etwas leichter. Wobei diese Abgabe dann darüber entscheidet, wer besteht und wer es nächstes Jahr nochmal versuchen muss.